Ihr Lieben,
der ganz normale Chemo-Wahnsinn: Nun endlich möchte ich Euch über die Geschehnisse der letzten Wochen informieren. Bitte verzeiht die lange Wartezeit. Es fällt mir momentan ungewohnt schwer, meine Gefühle in Worte zu fassen. Mitte Juli kam zu allem Übel hinzu, dass sich meine geliebte Omi bei einem Sturz ihre Hüfte gebrochen hat und operiert werden musste. Wegen ihrer Herzkrankheiten war mehr als fraglich, ob sie den Eingriff überleben würde, aber sie hat ihn überstanden. Allerdings geht es ihr jetzt in der Reha überhaupt nicht gut; sie hat starke Schmerzen und die Beweglichkeit ist enorm eingeschränkt. Mein Opa ist nun allein mit Haus und Garten und fühlt sich sehr einsam. All das belastet mich zusätzlich sehr. Doch nun zu mir und meinem miesen Karma.
Der zweite Chemo-Zyklus
Am 24.06. begann – wegen des Krankenhausaufenthaltes verspätet – der zweite Chemo-Zyklus. Der erste Tag der heftigen BEACOPP-eskaliert-Chemo war wieder erbarmungslos.
Irgendwann bin ich eingeschlafen und bewunderte am kommenden Tag erneut die Meisterleistung des menschlichen Körpers, mit all diesen Strapazen der Chemo umzugehen. Mir ging es besser, bis auf einen feuerroten Kopf und Rücken. Ich sah aus, als wäre ich im Solarium eingeschlafen – dank dem Cortison-Präparat Dexamethason. Zu schaffen machten mir abermals die Nebenwirkungen der Procarbazin-Chemokapseln: Übelkeit, Verwirtheitszustände, Unwohlsein und das schlimmste: Während der gesamten Einnahmezeit darf man laut Beipackzettel – in welchem man, liebe Pharmaindustrie, lieber aufführen sollte, was man noch essen darf – eigentlich fast nichts essen außer Nudeln, Kartoffeln und Reis. Als Beilage gibt’s leider nichts. 😆
An Tag 8 liefen das gefürchtete Vincristin und Bleomycin problemlos über den Port ein. Zur Feier des Tages genossen mein Schatz und ich unser Abendessen spontan im Luisenhof mit wunderschöner Aussicht. Eine super Idee, so vorzüglich zu speisen und unser schönes Dresden aus einer anderen, ungewohnten Perspektive zu betrachten. Genau wie im Leben stehen aus einem anderen Blickwinkel viele neue Wege offen. So wie eine schwere Krankheit auch eine Chance bedeutet.
Ohne Abwehrkräfte während der Chemo
Nach einem super Start in die zweite Woche der Chemo waren am Dienstag und Mittwoch tolle Spaziergänge und leckere Eisbechersessions angesagt 🙂 Ich fühlte mich gut, auch als ich am Donnerstag, den 4. Juli zum Blutbild ins Onkozentrum fuhr. Mein Werte waren jedoch unerwartet miserabel: Leukozyten bei 500! Hilfe, absolut keine Abwehrkräfte mehr, denn der Normalwert beginnt bei 4000. Das hieß, Antibiotika und Medikamente gegen Pilzinfektionen sowie absolutes Menschenverbot und Mundschutz würden die nächsten Tage bestimmen. Dazu nur frisch gekochte Speisen, kein Obst und ungeschältes Gemüse usw., täglich Handtücher, Bettwäsche, Klamotten wechseln, alles desinfizieren und keine Küsse 😥
Alles in allem unglaublich anstrengend, da man den ganzen Tag nur damit beschäftigt ist, sich bloß nichts einzufangen. Aber die Umkehrisolation im Krankenhaus ist eben nicht wirklich eine Alternative. Am Montag waren dann die Leukos dann wieder hochgeschossen dank der täglichen Spritzen zur Bildung der weißen Blutkörperchen. Die allerdings quälten mich dafür mit unerträglichen Knochenschmerzen über Tage… doof, doof, doof.
Zusätzlich machen mir die durch die gestörte Hormonproduktion ausgelösten Hitzewallungen, Schleimhautprobleme, Geruchs- und Geschmacksveränderungen und taube Fingerkuppen das Leben schwer. Hochdosiertes Cortison tut sein Übriges: Extreme Schlafstörungen, Gesichtsröte, gesteigerter Appetit und – vor allem für meinen Liebsten – schreckliche Stimmungsschwankungen. Ich bekam auch wieder extremes Herzstolpern.
Vom 8. zum 9. Juli durfte ich mich mit einem 24-Stunden-EKG behängen:
Ergebnis waren 3500 (!) Extrasystolen, also Extraschläge. Das sind ungewöhnlich viele, aber der Kardiologe beruhigte mich mit den Worten: „Kein Grund, sich allzu viele Sorgen zu machen.“ Auf meine Frage, ob dadurch ein Herzstillstand verursacht werden könne, meinte er: „Im Moment sieht es nicht danach aus.“ Na vielen Dank auch. Ich müsse eben mein psychisches Gleichgewicht (wieder)finden. Leicht gesagt.
Der dritte Chemo-Zyklus
Am 15.07. begann dann das neue Chemo-Protokoll: ABVD. Für diejenigen, die es genauer wissen möchten:
Adriamycin | 25 mg/m² | Tag 1 + 15 | |
Bleomycin | 10 mg/m² | Tag 1 + 15 | |
Vinblastin | 6 mg/m² | Tag 1 + 15 | |
Dacarbazin | 375 mg/m² | Tag 1 + 15 | |
Insgesamt ist dieses Protokoll etwas „entspannter“: Es gibt nur noch zwei Infusionstage über einen Zeitraum von vier Wochen und wesentlich weniger Begleitmedikamente. Das geliebte Dexamethason bleibt allerdings erhalten und damit der Kampf gegen Aggressionen, Mondgesicht, Schlafstörungen und hohen Puls.
Am ersten Infusionstag hatte ich mal wieder eine Begegnung mit einer Patientin wie von einem anderen Stern: Die neben mir sitzende Dame, etwa Anfang 50, erkundigte sich nach meinem Krankheitsbild, wie man das eben während der Chemo-Sitzungen zum Kennenlernen so macht. Ich erklärte ihr, dass ich ein Hodgkin-Lymphom habe und fügte sicherheitshalber hinzu, dass es sich um eine seltene Art des Lymphdrüsenkrebses handele. Wie es sich gehört, fragte ich die Frau natürlich, welche Art von Krebs es bei ihr sei. Sie meinte, dass wisse sie nicht genau. Bei ihr seien die Lymphknoten in der Leiste geschwollen gewesen. Daraus schlussfolgerte sie: „Da habe ich bestimmt das gleiche wie Sie, das ist ja witzig.“ Sie hatte natürlich keinen Hodgkin, was ich ja schon an ihren Infusionsmedikamenten erkannte. Und was daran noch witzig sein sollte, weiß ich auch nicht. Aber das Beste sollte noch folgen: Sie stellte fest, dass ich ja genau wie sie nicht von Haarausfall betroffen sei. Als ich sie aufklärte, dass meine Haare schon nach zehn Tagen ausgegangen sind und ich eine Perücke trage, meinte Sie: „Ach, da sind Sie ja zu beneiden! So eine schöne Perücke! Und Sie sind ja auch noch so jung, Ihr Körper verkraftet das alles ja auch besser.“ 🙄
Ja, ich bin wirklich ein Glückspilz. So jung schon Krebs zu bekommen und dazu noch eine Perücke, die aussieht wie echt, statt die eigenen Haare behalten zu dürfen. Echt toll. Bei so viel Dummheit konnte ich mich nur wieder meinem Buch widmen, um nicht auszurasten.
Angst und nochmal Angst
Es fällt mir immer schwerer, die Chemo durchzuhalten. Die Angst, dass die Therapie nicht anschlägt wird stärker. Zermürbende Fragen drängen sich immer wieder in meine Gedanken: Werde ich geheilt und noch wichtiger, für welchen Zeitraum hält die Remission, wenn sie denn eintritt, an? Schaffe ich es, mit der Angst vor einem Rezidiv umgehen zu lernen? Bleibt mir genug Zeit, meine Träume zu leben und die Welt zu sehen? Gelingt es, das Leben wieder unbeschwert zu genießen?
Die Zeit vergeht so unheimlich schnell und der Kopf kommt überhaupt nicht hinterher.
Alles Liebe für Euch!
Eure Simi